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"gesICHter - Ein Beitrag zur Identität"
Gesichter als Vielfalt der Bremen-Ansichten.


Rose Gerts-Schiffler, Polizei/Gerichtsreporterin in Bremen richtet Fragen an den Künstler:

Rose Gerts-Schiffler
Herr Weisser – Sie sind Fotograf, Schriftsteller, Sachbuchautor, Dozent, Soziologe, Kommunikationswissenschaftler, Herausgeber, Radiojournalist, Künstler. Habe ich da noch irgendetwas vergessen?

Michael Weisser
Ich bin jemand, der sich für die Welt interessiert, der diese Welt entdecken und sich im Gespräch mit anderen Menschen austauschen will, und ich bin einer, der jede "Routine" möglichst vermeidet.

Rose Gerts-Schiffler
Sie erforschen die Welt über Kunst?

Michael Weisser
Kunst ist für mich eine sinnlich-intellektuelle Form des Gesprächs. Sie gibt Intensität. Für mich ist es wichtig, mein Leben möglichst bewusst zu gestalten, Erlebnisse und Entwicklungen zu organisieren und auf den Wellenkämmen von Chaos und Ordnung mit Spaß und Ernsthaftigkeit über die Wellenkämme meiner schillernden Identität zu surfen.

Rose Gerts-Schiffler
Sie sind ein quirliger Mensch, zumindest wirken sie so auf jemanden, der sie das erste Mal trifft. Sie sind ein Mensch mit geschärften Sinnen und haben ein Mammutprojekt mit dem Titel „bremen-AN-sichten“ vor sich. Was für eine Idee steckt hinter diesem Projekt?

Michael Weisser
Der Titel „bremen-AN-sichten“ spielt mit den beiden Bedeutungen des Wortes. Es um Bilder als An-Sichten von etwas. Und es geht um Meinungen als An-Sichten über etwas. Die Bilder, die wir sehen, haben immer etwas zu tun mit unserer Herkunft, mit unseren Anschauungen, mit unserem Glauben und unserem vermeintlichen Wissen und natürlich (!) mit der aktuellen Befindlichkeit.
„bremen-AN-sichten“ habe ich im Jahr 2000 gestartet und auf zehn Jahre angelegt. Ich sammle Bilder und Meinungen von und über diese Stadt. Es geht um Atmosphären, Orte, Objekte und um Architekturen. Es geht um touristische Klischees, wie den Roland, das Rathaus, den Dom, die Stadtmusikanten, es geht um energetische Orte, wie den U-Boot-Bunker in Farge, oder die Psychiatrie des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost, den Weser-Strom oder um das, was man unter dem Begriff „Polizei“ versteht.
Ich versuche über die Medien digitale Fotografie und digitale Klangaufzeichnung den „spirit“ eines Themas zu ergründen. Dabei fotografiere ich zumeist extreme Detailansichten, zerlege also den Gesamteindruck und setze diese Details dann in verschiedenen, ästhetischen Verfahren zu neuen Bildern und Räumen zusammen...

Rose Gerts-Schiffler
...in Bildern, in denen das für Sie Unwesentliche weggelassen ist?

Michael Weisser
Ich konzentriere mich auf das für mich Wesentliche und gehe der Frage nach, welche Elemente definieren den „spirit“, worum geht es wirklich. Das ist nicht nur eine formale, sondern eine existenzielle Frage. Spannend ist, dass ich bei diesem Werk-Prozess nicht nur der Macher bin, sondern zum Beobachter werde, der den Ort und sich darin beobachtet.

Rose Gerts-Schiffler
...und wie geht es weiter?

Michael Weisser
Ich sehe mir die Bilder an, erkenne, was mir in diesem Moment ganz intuitiv als wichtig erschien, frage mich, ob diese Auswahl auch dem zweiten Blick standhält, besuche den Ort erneut, fotografiere wiederum, diesmal gezielter, schließe Lücken, konzentriere mich auf Nuancen, setze Schwerpunkte.
In einer dritten Phase kann es sein, dass ich im Internet oder im Staatsarchiv recherchiere, dass ich mehr über den Ort wissen will und dann noch einmal punktuell fotografiere.
Dann wähle ich aus dem Pool die aussagestarken Bilder aus und setze sie spielerisch-ernst in Zusammenhänge. Wenn der Ausdruck für den Ort gefunden ist, dann archiviere ich das Thema und hebe es für die Gelegenheit einer Ausstellung auf.

Rose Gerts-Schiffler
Laufen Sie bei so vielen Anstößen, Reizfeldern, überraschenden Haltepunkten nicht in die Gefahr, sich zu verzetteln?

Michael Weisser
Ver-zetteln... ich arbeite wirklich mit vielen Zetteln, beschreibe ständig Papiere mit langen Listen von noch zu Erledigendem oder überziehe sie mit Ideenskizzen... aber ver-zetteln im Sinne von mich verlieren und handlungsunfähig werden..nein, das passiert mir nicht.
Manchmal bringe ich mich gezielt in ein verzetteltes Chaos, wenn ich nach neuen Ideen suche. Neue Ideen leben vom Wechsel des Standortes, der Sichtweise, von Anspannung und Entspannung... und von meinem Interesse am Thema, also muss ich mich gezielt verwirren, mich hungrig und durstig machen, wenn ich eine Lösung find-en will.

Rose Gerts-Schiffler
Arbeiten Sie als Künstler systematisch?

Michael Weisser
Systematisch-intuitiv! Ich versuche, Intuition mit Logik zu mischen, Gefühl mit Analytik auszuballancieren. Ich pflege kein Bohemeleben, sondern arbeite in einem strukturierten Tag, in dem selbst die Spontaneität Teil der Arbeit an einem Thema ist. Und wenn es bei aller Bewegung noch einen spanischen Carajillo mit italienischem Pecorino-Käse gibt, dann freut mich dieser mediterrane Genuß-Moment in Bremen.

Rose Gerts-Schiffler
Aber es erscheint ja für den Betrachter fast beliebig... wenn ich mir das Bremen-Projekt ansehe. Sie haben sich mit dem U-Boot-Bunker in Farge beschäftigt, mit dem Weser-Strom, mit dem Hermann-Böse-Gymnasium aber auch mit unterschiedlichen Bodenbelägen in der Stadt... wie lautet ihr roter Faden, der alles verbindet?

Michael Weisser
Das Thema ist ganz klar. Immer geht es um einen besonderen Ort in Bremen, um Atmosphäre, Architektur oder Objekt, also um ein Thema, das für diese Stadt typisch, wichtig, markant, witzig, bedeutsam oder denk-würdig ist.
Die Potenz des Projektes ergibt sich erst in einer Gesamtausstellung, in der man von Thema zu Thema geht und neue Ein-Sichten in vermeintlich Alt-Bekanntes gewinnt.

Rose Gerts-Schiffler
Gab es schon Ausstellungen?

Michael Weisser
Ja, das Gerichtshaus habe ich in den drei Räumen der Städtischen Galerie gezeigt und im Gerichtshaus selbst sind drei Räume gestaltet.
Meine Sicht vom Hermann-Böse-Gymnasium habe ich im Wallsaal der Zentralbibliothek ausgestellt und im Treppenhaus des Gymnasiums hängt eine Sequenz von Ansichten.
Zum Weser-Strom gab es eine Ausstellung in den Wehrfeldern unterhalb des Wasserspiegels im Weserwehr und im Wasser- und Schifffahrtsamt Bremen wurden der Eingang und eine Etage gestaltet.
Dazu habe ich eine Monitor-Installation zum U-Boot-Bunker in Farge in der Westkrypta des Doms gezeigt.

Rose Gerts-Schiffler
Wenn ich es richtig verstanden habe, dann sind Sie seit acht Jahren an diesem Mammutprojekt – richtig? Mal ganz respektlos gefragt: Dürfen wir uns an einem Multi-Talent im Rausch der Sinne erfreuen, wenn wir uns mit dem Werk beschäftigen – oder gibt es eine Botschaft, die sie vermitteln wollen?

Michael Weisser
Mir geht es nicht um eine pädagogisch-belehrend ausgerichtete Botschaft. Jeder Betrachter vergleicht meine Sicht eines Ortes mit seiner Sicht. Erst in dieser Differenz baut sich eine produktive Spannung auf, die hoffentlich für den Betrachter ebenso inspirierend ist, wie für mich. Ich selber lebe für die Dauer des Werkes im Projekt und bin in einem ständigen Prozess des Revidierens von Vor-Urteilen.

Rose Gerts-Schiffler
Wie hat Ihr Bremen-Projekt begonnen?

Michael Weisser
Die Idee für „bremen-AN-sichten“ hatte ich im Jahr 2001, als ich zum Schöffen am Schwurgericht berufen wurde. In der ersten Strafkammer hatte ich vier Jahre lang Straftaten zu beurteilen und war dem Problem des Vor-Urteils ausgesetzt. Bilder und Meinungen entstehen, werden revidiert, werden verworfen, werden von anderen ersetzt. Während ich auf dem alten Gerichts-Sessel mit der prosaischen Inschrift „Fürchte niemand“ saß, fragte ich mich, was für ein Ort das Gericht eigentlich ist. Ein Raum in einer Architektur mit Geschichte. Ein Ort an dem angeklagt und verteidigt wird, an dem Gutachten erstellt und verlesen werden, an dem Zeugen vernommen und Beweise gewürdigt werden. Es ist nicht der Ort, an dem Gerechtigkeit erreicht wird, hier wird (nur!) ein Urteil gesprochen; auch mit dem Risiko, das es ein Vor-Urteil ist, im schlechtesten Fall also ein Irrtum.
Diese Situation wollte ich darstellen... mich von außen annähern, nach innen kommen, die Worte hören und die in der Zeit als Typografien erstarrten Worte festhalten. Im Verlauf von einem Jahr ist ein Werk entstanden, das nicht nur in der Städtischen Galerie gezeigt wurde, sondern auch in einigen Räumen auf der ersten Etage des Gerichtshauses als bleibende Installation platziert wurde.

Rose Gerts-Schiffler
Und wenn Sie ihre Botschaft auf einen Satz bringen müssten?

Michael Weisser
Für das Gerichtshaus würde ich sagen "Ohne Irrtum kann niemand eine Aussage über uns machen“ und für mein Gesamtwerk würde ich sagen, „Leben ist Kunst isst Leben“.

Rose Gerts-Schiffler
Ihr aktuelles Thema „Gesichter der Stadt“ soll die Vielfalt Bremens zeigen. Sie haben rund 1.000 Menschen in Bremen fotografiert und zig-tausend-mal dafür auf den Auslöser gedrückt. Welche Personen oder Personengruppen haben eigentlich nicht auf Ihre Einladung reagiert? Und was meinen Sie warum nicht?

Michael Weisser
Angesprochen waren alle Menschen in Bremen. Sehr viele haben sich auf den Weg gemacht und das Projekt unterstützt. Eingeladen habe ich über mehr als 3.000 Postkarten, die an vielen Stellen in der Stadt ausgelegt waren. Eingeladen wurde durch eine ständige Berichterstattung in den Zeitungen, buten&binnen-tv hat das Projekt vorgestellt und viele Teilnehmer haben in ihrem jeweiligen Freundes- und Bekanntenkreis dafür geworben.
Dazu habe ich noch selbst etwa zweihundertfünfzig Menschen persönlich angeschrieben, von denen sind gut drei Viertel gekommen.
Nicht gekommen sind die, die von dem Projekt nicht erfahren haben und die Einwände hatten. Ein Teil wollte nicht mitmachen, damit man ihnen nicht Eitelkeit unterstellen kann, ein Teil wollte den Zeitaufwand nicht eingehen und ein anderer Teil fand sich nicht attraktiv genug – das waren die wesentlichen Argumente, soweit ich in der Nachfrage erfahren habe.

Rose Gerts-Schiffler
Nennen Sie mir drei Menschen, an die Sie sich spontan erinnern.

Michael Weisser
Erstens: Das Portrait-Projekt startete im Stadtteil Huchting in einem Ladenlokal. Hier waren speziell Jugendliche unter dem Stichwort „Casting – Dein Film ist Dein Leben“ angesprochen. Es ging um das Gesicht als Ausdruck von Identität, um Wirkung, um Selbstinszenierung und um Fragen zur Lebensgestaltung. Ein 11-jähriges, pausbäckiges Mädchen mit Namen Havva kam zu mir und stellte fest „Ich möchte nicht mehr so dick sein – aber ich mag so gerne Süssigkeiten“. Das klingt überaus trivial, aber in diesem Satz liegt der generelle Widerspruch von gutem Vorsatz und Einschränkung, von ja/aber, ein unaufgelöster Gegensatz, der mein ganzes Projekt begleitet hat.
Zweitens: In meinem temporären Atelier im Ostertorsteinweg 100 erschien ein Mann. Er war groß, kräftig, dickbäuchig, mit Vollbart, im blauen Overall eines Klempners, eine Pudelmütze auf dem Kopf. Er trat ein, zupfte sich durch den Bart und sah sich die ersten Portraitfotos an. Ich frage ihn, ob er teilnehmen wollte. Oh nein, das dürfe er nicht, er wäre „undercover“ unterwegs und müsste sich hier dienstlich umsehen. Später klärte er mich auf, dass er als verdeckter Ermittler mit Sonderstatus für den BKA arbeitet und einem Drogenkartell im Viertel auf der Spur sei. Der Mann meinte es ernst. Er lebte in seiner Welt. Und ich war froh, ihn nach einigen Monologen an etlichen Tagen dann doch noch fotografieren zu können.
Drittens: Als ich im Lesegarten der Zentralbibliothek fotografierte, besuchte mich eine obdachlose Frau, die seit dreizehn Jahren auf der Straße lebt. Sie setzte sich, sah schüchtern in die Kamera, spielte mit ihrer Puppe und erzählte dabei ohne jede Pause im Verlauf von etwa fünfzehn Minuten ihre Lebens-, Liebes- und Leidensgeschichte... farbig, detailreich, faszinierend. Ihr letzter Satz war: „Nur auf der Strasse bin ich wirklich frei, die Strasse ist mein Leben!“ Dann ging sie.
Zwischen diesen Begegnungen liegen hunderte von Gesprächen und hunderte von spannenden, lustigen und ergreifenden Erlebnissen mit Menschen und deren Aussagen, die als Zitate festgehalten und typografisch ins Bild gesetzt Zeitzeugen sind, was Menschen hier und heute bewegt.

Rose Gerts-Schiffler
Sie planen einen Katalog zu diesem Projekt, wie soll der aussehen? Gibt es dafür ein spezielles Konzept oder dokumentieren Sie einfach die Menge der Bilder?

Michael Weisser
Ein Buch soll ein eigenes Medium mit einer eigenen Aussage werden, die über die reale Fotografie neue Räume erschließt.
Die Portraits sollen mit einem digitalen Algorithmus abstrahiert werden und über diese Bildbearbeitung eine neue Anmutung bekommen, die dem Eindruck einer Zeichnung nahekommt. Unter jedes Portrait wird der Vornamen des Abgebildeten gesetzt.
Dazu möchte ich erstmals ausgewählte ZITATE veröffentlichen, wobei nicht das Zitat des Portraitierten unter sein Bild kommt, sondern jeweils zwei fremde Zitate von Mann und Frau unter jedes Portrait gesetzt werden. Spannung soll ertzeugt werden, Fragen sollen provozieren und den Leser inspirieren. Die Abfolge der Portraits wird dabei im alphabetischen Ablauf der Vornamen verlaufen.
Die beiden Zitate werden mit einem Begriff unterlegt und verbunden, wobei sich auch hier die Begriffe alphabetisch durch das ganze Buch ziehen.
Einen eigenen Beitrag liefere ich nur durch die Kopfzeile auf jeder rechten Seite: hier formuliere ich  Fragen, die ich mir im Verlauf des Projektes selbst gestellt habe... die FRAGE ist also eigentlich das Prinzip des Werkes...

Sammlung aller Fragen von Beteiligten >>> PDF

Autonomes Architektur Atelier (Hasemann, Kutsch, Schnier)
Birgit Becker – Unternehmerin
Jens Böhrnsen – Präsident des Bremer Senats, Bürgermeister und Kultursenator
Irmgard Dahms – Künstlerin
Prof. Wolfrahm Dahms - Architekt
Christian Gotzen – Pastor am Dom zu Bremen
Ulla Hamann – TV-Moderatorin buten&binnen
Prof. Dr. Helmut Haselbeck – Leiter Psychiatrie Klinik Bremen-Ost
Horst von Hassel – Bildungssenator a.D.
Ulrike Hauffe – Leiterin Gleichstellungsstelle für Frauen
Karoline Linnert – Finanzsenatorin
Barbara Lison / Erwin Miedtke – Direktion der Stadtbibliothek
Dr. Bernd Loock - Facharzt
Prof. Dr. Hans-Joachim Manske – Direktor der Städtischen Galerie
Prof. Dr. Frieder Nake – Informatiker und Computerkünstler
Petra – eine Hure aus der Helenenstrasse
Edith Pundt – Künstlerin
Ralph Saxe – Weinhändler und Kulturpolitiker
Dr. Helga Trüpel – Europa-Abgeordnete und Kultursenatorin a.D.
Christian Weber – Präsident der Bremischen Bürgerschaft
Annette Ziellenbach – Schauspielerin und Sängerin
Anselm Züghardt – Leiter Kulturzentrum Lagerhaus


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